Integrale Philosophie

Die integrale Philosophie ist eine Philosophie der Evolution. Eine Geschichte der Evolution des Bewusstseins, von der Entstehung des Kosmos bis zu den höchsten Stufen des menschlichen Geistes. Doch sie ist noch viel mehr als das, wie der integrale Philosoph Steve McIntosh schreibt: nämlich „eine Philosophie, die buchstäblich Evolution hervorbringt“. Das große Thema der integralen Philosophie ist die Entstehung einer neuen Weltsicht, die als „integrales Bewusstsein“ bezeichnet wird.

Woher kommen wir? Und wohin wird sich die Menschheit spirituell entwickeln? Warum hält sich faschistisches, nationalsozialistisches Gedankengut so hartnäckig in unseren Gesellschaften? Wird es uns gelingen, die Erde vor dem Klimakollaps zu bewahren? Was ist Erleuchtung?

So unterschiedlich diese Fragen auch sind, so hilft uns die integrale Philosophie doch, auf fast alle schlüssige Antworten zu finden. „Nach der integralen Philosophie kann fast jedes Problem in der Welt als ein Problem des Bewusstseins erkannt werden“, schreibt dazu Steve McIntosh, und die Lösung dieser Probleme sei in der Weiterentwicklung des Bewusstseins zu finden. Doch wir finden nicht nur Antworten auf gesellschaftliche und politische Fragen, auch uns selbst und unsere Beziehungen, unsere inneren und zwischenmenschlichen Konflikte und Potenziale, beginnen wir mit zunehmendem integralen Verständnis besser zu verstehen.

Alles ist mit allem verbunden

Die integrale Philosophie ist konsequent holistisch. Ein Holon (griech. holos = ganz) ist immer sowohl ein Ganzes als auch Teil eines noch größeren Ganzen. Wie ein Atom, das elementarer Bestandteil eines Moleküls ist. Wie eine Zelle, die als Einzeller existieren kann, gleichzeitig Teil eines jeden komplexeren Organismus ist. Dabei kennt die Evolution nur eine Richtung: hin zu mehr Organisation, mehr Komplexität, mehr Bewusstheit. Holons, die sich zu etwas größerem verbinden, werden eingeschlossen und transzendiert; nichts geht verloren, aber es kommt immer etwas Neues hinzu. Und Holons existieren nicht nur auf materieller Ebene. Weil sich Evolution nicht nur im Äußeren vollzieht, sondern auch im Innern, gilt das holistische Prinzip auch dort:  im Bereich der Evolution des menschlichen Bewusstseins und der Kultur. Evolution findet also immer in drei Bereichen statt: Natur, Selbst und Kultur.

Ken Wilber 2006

Diese drei großen Bereiche der Evolution nennt Ken Wilber, DER Integrale Philosoph, das ES (objektiv), das ICH (subjektiv) und das WIR (intersubjektiv). Oder auch: das Wahre, das Gute und das Schöne. Die östlichen Traditionen – wie Yoga und Buddhismus – beschäftigen sich ausschließlich mit der Entwicklung des Ich, des Subjektiven, und sie haben hier Phänomenales geleistet.

Doch wer verstehen will, wie sich menschliches Bewusstsein entwickelt und einen Blick auf die Zukunft der Evolution werfen möchte, muss die anderen Bereiche mit einbeziehen.

Von Bewusstseinsstufen und -zuständen

„Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen, der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.“ So beschreibt Hermann Hesse in seinem wundervollen Gedicht „Stufen“ ein Phänomen, welches heute in der Entwicklungspsychologie als gesicherte Erkenntnis gilt: dass sich menschliches Bewusstsein in Stufen entwickelt.

Sri Aurobindo hat die höheren Bewusstseinsstufen (synonym verwandt wird der Begriff Bewusstseinsebenen) des menschlichen Geistes – des Mentals, wie er es nannte – beschrieben, seine Erkenntnisse beruhten auf eigener (subjektiver) Erfahrung, auf Selbstbeobachtung und Selbstreflexion. Ken Wilber integriert Sri Aurobindos Modell heute noch in sein Modell der kognitiven Entwicklung.

Einer der ersten westlichen Wissenschaftler, die diesen Entwicklungsstufen auf die Spur kamen, war der amerikanische Psychologe James Mark Baldwin, der zu Beginn des letzten Jahrhunderts die mentale und emotionale Entwicklung von Kindern und Erwachsenen wissenschaftlich erforschte. Viele sind ihm seither gefolgt, wie Teilhard de Chardin, Jean Piaget, Lawrence Kohlberg, Jane Loevinger, Abraham Maslow, Robert Kegan oder Clare W. Graves, um nur einige zu nennen. Sie haben die kognitive, emotionale, moralische Entwicklung oder die Entwicklung des Selbst untersucht, und sie kamen alle zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung in Stufen verläuft. Manche haben dabei drei, manche fünf, andere sieben oder mehr Stufen beschrieben. Dies sei aber letztendlich nicht entscheidend, schreibt Ken Wilber dazu. Wichtig sei nicht die Anzahl der Stufen, sondern dass wir anerkennen, dass es diese Stufen gibt.

Wichtig ist es zudem, zwischen Bewusstseinsstufen und Bewusstseinszuständen zu unterscheiden. Samadhi ist ein Bewusstseinszustand, ähnlich wie Wachen, Träumen und Tiefschlaf. Ein Zustand ist stets vorübergehend und kann so schnell wieder aufgelöst sein, wie er eingenommen wurde. Eine Bewusstseinsebene hingegen ist von Dauer und daher von deutlich größerer Tragweite als ein Bewusstseinszustand. Wie wir die Welt sehen, wird davon bestimmt, auf welcher Bewusstseinsebene wir uns befinden. Bis wir eine neue Stufe erklimmen, dauert es in der Regel Jahre – oder wir verharren irgendwann auf einer bestimmten Stufe und unsere Entwicklung kommt zum Stillstand.

Das Wilber-Combs-Raster

Meditative Zustände entsprechen von der Aktivität unseres Gehirns her den natürlichen Zuständen des (konzentrierten) Wachseins, des Traums und des Tiefschlafs. Die Energie im konzentrierten Wachzustand wird grobstofflich genannt, weil wir uns hier auf etwas Materielles ausrichten, unseren Körper zum Beispiel, wie im Yoga. Oder wir erfahren zum Beispiel einen Zustand des tiefen Einsseins mit der Natur, einem Baum, Berg oder dem Meer etwa. Im zweiten Zustand, der dem Traumzustand entspricht, fokussieren wir uns auf innere Bilder, Farben oder Energien, weshalb er als subtil (feinstofflich) bezeichnet wird. Auch eine transzendente Erfahrung des Absoluten, des Göttlichen (von dem wir allerdings noch getrennt sind) ist typisch für diesen Zustand. Der dritte Zustand, der dem Tiefschlaf gleichgesetzt wird (nur dass wir wach, also bewusst sind) und in dem die Aktivität des Gehirns fast gänzlich zum Stillstand kommt, wird als kausal bezeichnet – ein Zustand, der als formlos und leer beschrieben wird, in dem wir ein hoch bewusstes reines, wahres Selbst erleben. Der vierte Zustand ist der Zustand der Non-Dualität, der Nicht-Zweiheit. Wir sind eins mit allem, was ist, es gibt keine Trennung mehr zwischen uns und dem Absoluten, dem Göttlichen, dem kosmischen Bewusstsein.

Auch wenn dies eine kurze und etwas vereinfachte Darstellung äußerst komplexer Phänomene ist, hilft es uns, eine Vorstellung zu bekommen von dem, was früher als Erleuchtung bezeichnet wurde und was wir heute unter Erleuchtung verstehen sollten. Dachte man früher, Samadhi, der Zustand in dem wir das Absolute erfahren, sei der letzte und endgültige, so weiß man heute, dass Menschen jeder Bewusstseinsstufe eine transzendente, mystische Erfahrung machen können, eine Samadhi- beziehungsweise Erleuchtungserfahrung. Und dass diese Erfahrung geprägt ist von der Kultur und Weltsicht der jeweiligen Stufe – und sich also verändert, mit zunehmender Evolution des Bewusstseins. Ken Wilber und Allan Combs haben dies erkannt und im so genannten Wilber-Combs-Raster dargestellt.

Wilber-Combs-Raster

„Erleuchtung ist ein niemals endender Prozess der Selbsttransformation“, sagt Ken Wilber deshalb. Sein Buch „Halbzeit der Evolution“ gibt einen Hinweis darauf, wo wir heute in etwa stehen.

Von Bewusstseinsstufen und -linien

Das umfassendste und heute am weitesten verbreitete und akzeptierte Bewusstseinsmodell, ist das Modell „der biologischen-psychologischen-sozialen Evolution“ des amerikanischen Psychologen Clare W. Graves, das nach dessen Tod von seinen Kollegen Don Beck und Christopher Cowan weiterentwickelt und unter dem Namen Spiral Dynamics verbreitet wurde. Spiral Dynamics beschreibt nicht nur die einzelnen Stufen der Entwicklung, dessen Werte, Weltsichten und Glaubenssysteme, sondern zeigt auch auf, wie diese zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen und formen. Und Spiral Dynamics gibt wie kein anderes Modell einen Ausblick auf die Zukunft der Evolution.

Doch Menschen entwickeln ich nicht gleichmäßig durch die Entwicklungsstufen hindurch. So kann es passieren, dass wir uns zum Beispiel kognitiv auf einer sehr hohen Ebene befinden, moralisch oder unsere soziale Kompetenz betreffend aber noch unterentwickelt sind. Ken Wilber spricht hier von multiplen Intelligenzen oder Entwicklungslinien. Integral aufgeklärt zu sein, bedeute jedoch nicht, auf allen Entwicklungslinien meisterhaft zu sein, schreibt Ken Wilber in seinem Buch Integrale Spiritualität, wichtig sei es nur, sich dieser Linien (und der eigenen Schwächen) bewusst zu sein.

Wie viele Entwicklungslinien es gibt beziehungsweise wie stark eine Differenzierung hier Sinn macht, wird kontrovers diskutiert. Ken Wilber geht von circa einem Dutzend verschiedener Linien aus, die drei wichtigsten sind aber die kognitive, die emotionale und die moralisch-ethische Entwicklungslinie. Die kognitive Linie spielt bei der Entwicklung eine zentrale Rolle, weil eine hohe kognitive Entwicklung die Voraussetzung ist für die Entwicklung in allen anderen Bereichen. Deshalb steht eigentlich jeder Mensch kognitiv ein, zwei oder gar drei Stufen über den anderen Bereichen. Wie wir in der Welt handeln, hängt aber nicht von unseren kognitiven Fähigkeiten ab, sondern von unserer Weltsicht – unseren Werten also, unserer moralisch-ethischen Entwicklung.

Spiral Dynamics – die Spirale der Entwicklung von Bewusstsein und Kultur

Wie ein Mensch die Welt sieht, nach welchen Werten er handelt, was seinem Leben Sinn und Orientierung gibt, häng von der Ebene des Bewusstseins ab, auf der er sich befindet. Und dies kann sich ein Leben lang immer wieder ändern. Graves sagt, wenn ein Mensch auf einer Stufe der Existenz gefestigt ist, hat er oder sie die Psychologie, die für diese Stufe typisch ist. Seine oder ihre Gefühle, Motivationen, Glaubenssysteme, aber auch Bildung, Ökonomie und politische Theorie und Praxis sind alle dieser Stufe angemessen. Jede weitere Stufe, Welle oder Ebene der Existenz sei ein Zustand, durch den Menschen auf ihrem Weg zu anderen Seinszuständen hindurchgehen. Die Stufen, das ist wichtig zu verstehen, beschreiben dabei keine „Typen von Menschen“, sondern „Bewusstseinstypen in Menschen“.

Jede neue Stufe entsteht als Antwort auf die grundlegenden Probleme ihrer Zeit. Sozusagen als eine Art Antithese auf die These der vorherigen Stufe. Wichtig sei es, alle Stufen zu würdigen, schreiben Marion Küstenmacher und Tilmann Haberer in ihrem Buch „Gott 9.0“, denn es gebe keine guten oder schlechten Bewusstseinsstufen, vielmehr sei jede für die Epoche, in der sie entstanden ist, „lebensrettend“ gewesen.

Das Bild, welches das Erscheinen neuer und das Transzendieren und Integrieren vorheriger Bewusstseinsebenen am treffendsten beschreibt, ist die Spirale. Und zwar eine Spirale, bei der jede einzelne „Stufe“ mit einer bestimmten Energie schwingt und in einem bestimmten Farbspektrum strahlt und zugleich jede Farbe von den Stufen oberhalb und unterhalb geformt und beeinflusst wird. Spiral Dynamics arbeitet bei der Bezeichnung der Bewusstseinsstufen deshalb auch mit Farben, die charakteristisch sind für die jeweilige Stufe.

Die Spirale des Bewusstseins kann zurückverfolgt werden bis zur frühesten Form menschlichen Bewusstseins vor circa 100.000 Jahren, das als archaisch bezeichnet wird. Archaisches Bewusstsein ist natürlich und instinkthaft – und hat die Farbe Beige, die für die Steppen- und Savannenlandschaft steht, in der die Menschen damals lebten. Beige wird heute nur noch bei Neugeborenen gefunden. Denn die gesamte Evolution des Bewusstseins, die sich über 100.000 Jahre erstreckt hat, wiederholt sich in jedem Menschen im Zeitraffer. Von Geburt an bis ins hohe Alter durchlaufen wir eine bestimmte Anzahl an Stufen, manche Menschen vier, andere sechs, manche sogar acht oder mehr. Und zwar in der gleichen historischen Reihenfolge. Keine Stufe kann übersprungen werden. Erst wenn eine Stufe kultiviert und gefestigt ist, kann ein nachhaltiger Übergang zu nächsten Stufe erfolgen, kann die vorherige Stufe integriert und transzendiert werden.

Bemerkenswert ist, dass auf eine Stufe, auf der die Individualität des Einzelnen betont wird (wir bezeichnen sie als Ich-Stufen) immer eine Stufe folgt, auf der die Gemeinschaft im Vordergrund steht (Wir-Stufen). Das Pendel schwingt dabei immer von Ich zu Wir und wieder zurück, wobei alle Ich-Stufen die Grundthemen Selbstwahrnehmung, Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung haben, wo hingegen es bei den Wir-Stufen immer um die soziale Gruppe und die Grundthemen Selbsthingabe (bis zur Selbstaufopferung) und Verzicht geht. Allerdings hat jedes neue Ich ein tieferes Bewusstsein als das vorherige, genauso wie jedes Wir ein höheres Bewusstsein hat als das vorherige Wir.

Stammesbewusstsein (Purpur)

Die purpurne Bewusstseinsstufe, das Stammesbewusstsein, ist vermutlich vor etwa 50.000 Jahren erstmals aufgetaucht. Die Menschen schließen sich zusammen zu Stämmen und Clans, um die Überlebenschancen in der Wildnis zu erhöhen.

Purpur Stammesbewusstsein

Der Mensch nimmt sich zwar als Individuum war, aber fühlt sich auch seiner Gruppe zugehörig, ja, ohne die Gruppe ist er nichts, hat er keine Chance zu überleben.

Die Welt in Purpur ist gefährlich, andere Stämme sind eine Bedrohung, sie ist geheimnisvoll und wird von Geistern kontrolliert. Aberglaube und magisches Denken bestimmen den Geist.

Es gelten die Worte des Häuptlings, des Schamanen und der Alten, und deren Worte werden nicht hinterfragt.

Mit dem Ende der Säuglingszeit zeigt sich beim Kleinkind purpurnes Bewusstsein. Es beginnt, sich mit der eigenen Familie zu identifizieren, „fremdelt“ aber anderen Menschen gegenüber. Märchen, Hexen und Feen gehören zu seiner Welt, das Kuscheltier tröstet und kann sprechen.

Geschätzt befinden sich heute noch knapp fünf Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung auf der purpurnen Bewusstseinsstufe – sie leben in den Urwäldern Amazoniens und Papua Neuguineas sowie in den ländlichen Gebieten mancher Entwicklungs- und Schwellenländer.

Kriegerbewusstsein (Rot)

Vor rund 10.000 Jahren beginnen die ersten Menschen, sich aus der Umklammerung ihrer Clans zu befreien. Sie entdecken ihren freien Willen, ihre Kraft, und sie ziehen hinaus in die Welt, um sich selbst zu entdecken und die Welt zu erobern. Aber auch durch den zunehmenden Erfolg und die steigende Anzahl an Stämmen, die immer öfter in Konflikt miteinander geraten, entsteht eine neue Weltsicht, die Steve McIntosh die Stufe des Kriegerbewusstseins und der Kriegerkultur nennt.

Wie jede andere Stufe auch, kann Rot gesund, aber auch pathologisch sein. Rot ist lebendig und abenteuerlustig, aber auch aggressiv, zornig und misstrauisch. Auf sich allein gestellt vertraut der Mensch auf dieser Bewusstseinsstufe niemandem außer sich selbst. Es gilt das Recht des Stärkeren. Alexander der Große, Attilas Hunnen, die Mongolen Dschingis Khans, aber auch die spanischen Konquistadoren in Mittel- und Südamerika sind Inbegriffe des roten Eroberers, der sich die Welt und die Menschen Untertan macht.

Rot Stammesbewusstsein

Doch das Kriegerbewusstsein ist keineswegs Geschichte. „In Ländern wie Somalia und Afghanistan und in den Slums großer Städte sind Warlords und Straßenbanden ein eindeutiges Zeichen, dass diese Stufe des Bewusstseins auch in der heutigen Welt noch sehr aktiv ist“, schreibt Steve McIntosh. Machtbewusste, egozentrische Menschen, Menschen, die für ihren Erfolg „über Leichen gehen“ – und davon gibt es wahrlich genug, auch in unseren zivilisierten Gesellschaften –, haben alle noch starke Rote Anteile. Geschätzt etwa 20 Prozent der Weltbevölkerung haben ihren Schwerpunkt auf dieser Stufe.

Im Alter zwischen zwei und vier Jahren durchläuft das heranwachsende Kind diese Bewusstseinsstufe. Wie die Menschen vor 10.000 Jahren entdeckt es seinen Willen, testet Grenzen aus. Wir bezeichnen dies als die Trotzphase, eine unglaublich wichtige Phase für jedes Kleinkind, weil es hier beginnt, voller Neugier seine kleine Welt zu erobern, Selbstvertrauen aufzubauen und Eigenständigkeit zu erlernen. Aber natürlich müssen ihm auch klare Grenzen gesetzt werden. So wie dem Morden, Plündern und Vergewaltigen der Roten Eroberer Grenzen gesetzt werden mussten.

Traditionelles Bewusstsein (Blau)

Traditionelles Bewusstsein – die Stufe Blau – entsteht als Reaktion auf die oft brutalen und chaotischen Lebensbedingungen der vorherigen Stufe. Primäres Ziel von Blau ist es, die „böse“ Rote Welt zu erlösen und Recht und Ordnung zu schaffen. Der Schwerpunkt verschiebt sich von egozentrisch zu ethnozentrisch.

Ganz wichtig zu verstehen sind dabei mehrere Dinge: Zum einen dauerte es oft Hunderte oder gar Tausende von Jahren vom Aufkeimen eines neuen Bewusstseins bis zu seiner Blütezeit, also zu der Zeit, wo ein größerer Teil der Weltbevölkerung tatsächlich diese Stufe erreicht hat. So wie Rotes Bewusstsein sich vor rund 10.000 Jahren zu entwickeln begonnen hat und im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung die dominierende Stufe war. So wie sich Blaues, traditionelles Bewusstsein erstmals vor vielleicht 5.000 Jahren gezeigt hat, aber 4.000 Jahre gebraucht hat, um sich zu stabilisieren und durchzusetzen.

Weil sich die Evolution des Bewusstseins über einen solch langen Zeitraum erstreckt und sich natürlich nicht alle Menschen gleich schnell und gleich weit entwickeln, existieren immer mehrere Bewusstseinsstufen nebeneinander – und es entsteht ein regelrechter Kulturkampf. Ein neu entstandenes Bewusstsein lehnt die vorherige Stufe oft vehement ab und bekämpft sie. Die seither dominierende Stufe empfindet die neue Weltsicht als Bedrohung ihrer eigenen Weltsicht und Lebensumstände.

Blau Traditionelles Bewusstsein

In einer Blauen Welt herrschen Recht und Ordnung, sie ist hierarchisch organisiert, systemgläubig und fromm, aber auch ehrlich und rechtschaffen. Die Menschen schließen sich zu neuen Gemeinschaften zusammen, die dieselben Weltsichten und Werte haben. Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gelten allen Mitgliedern der eigenen Gruppe – der Dorfgemeinschaft, dem Volk, der Kirche.

Das Streben nach Akzeptanz und Anerkennung innerhalb dieser Gruppe bestimmen das Leben der Menschen. Meist ist es eine höhere Macht (Gott), oft aber auch eine Ideologie, die den Menschen Sinn gibt und ihnen ihren Platz in der Gesellschaft zuweist.

Durch die Entwicklung der Schrift beschleunigt sich die Verbreitung von Blauem Gedankengut und Blauen Regeln enorm. Alle monotheistischen Weltreligionen und später auch die Nationalstaaten entstehen auf dieser Bewusstseinsstufe. Und natürlich auch ihre pathologischen Extreme: nationaler und religiöser Fundamentalismus. Denn eines der charakteristischen Kennzeichen dieser ethnozentrischen Bewusstseinsstufe ist, dass nur die eigene Weltsicht und die eigenen Werte als richtig und wahr anerkannt werden. „Wir“ haben generell recht, die anderen unrecht. „Wir“ sind die Guten, die Auserwählten, die anderen die Bösen. Grautöne gibt es nicht, nur Schwarz und Weiß, richtig und falsch. Der Nationalsozialismus der Deutschen war eine Kombination aus Blauer Ideologie (unser Volk, unser Führer) gepaart mit Roter Brutalität – andere Völker wurden unterworfen, anders Denkende, nicht Dazugehörige vernichtet.

„Wenn wir über die traditionelle Bewusstseinsstufe nachdenken“, schreibt Steve McIntosh, „ist es wichtig, anzuerkennen, dass jemand ein relativ hohes Maß an Selbstverwirklichung erreichen kann, während der psychische Schwerpunkt auf dieser Stufe bleibt.“ Dies erklärt, warum heute ein Großteil der Menschen in der westlichen Welt in einer modernen, aufgeklärten Welt lebt, in der Menschenrechte für alle gelten, moderne Technologien genutzt werden und jeder bestrebt ist, sich selbst zu verwirklichen und sein Leben den eigenen Vorstellungen gemäß gestalten darf – aber dennoch (oft zutiefst) traditionelle Werte vertritt. Und warum die Gesellschaften zwar um die Notwendigkeit von Klima- und Umweltschutz wissen, aber bestenfalls halbherzig danach handeln.

Weltweit dürfte sich heute noch etwa die Hälfte der Menschen auf dieser Bewusstseinsstufe befinden, in der westlichen Welt zwischen 30 und 40 Prozent. Der Zuspruch, den traditionelle Parteien wie CDU / CSU in Deutschland und rechtspopulistische Parteien in ganz Europa erfahren, liegt hierin begründet.

Bei einem Kind verschiebt sich der Schwerpunkt des Bewusstseins etwa zwischen der Einschulung und der Pubertät mehr und mehr auf diese Stufe. Es lernt zu folgen, Regeln und Strukturen einzuhalten und entwickelt ein Gefühl für die Konsequenzen des eigenen Handelns. Die Zugehörigkeit zu Gemeinschaften außerhalb der Familie – der Freundeskreis, der Sportverein – ist ungemein wichtig, vermittelt dem Kind ein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit.

Modernes Bewusstsein (Orange)

Ein erstes Emergieren modernen, rationalen Bewusstseins fand ab etwa 500 vor Christus statt. Im antiken Griechenland triumphierte die Vernunft, was sich nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Ingenieurskunst, der Mathematik, Politik und Kunst offenbarte. Auch Patanjalis Yoga-Sutren sind eindeutig aus einem rationalen Bewusstsein heraus geschrieben worden. Doch dann schloss sich dieses Fenster unerklärlicherweise für viele Jahrhunderte wieder und Blaues Bewusstsein beherrschte das „dunkle“ Mittelalter.

Bis Mitte des letzten Jahrhunderts, bis zur Renaissance (der „Wiedergeburt“ der antiken Philosphie) dauerte es, bis Oranges Bewusstsein erneut in der Welt erschien und sich spätestens mit der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert schnell und unaufhaltsam verbreitete. Der Ruf der französischen Revolutionäre nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ ist ein Aufstand gegen die Blaue Obrigkeit und ihre verkrusteten Strukturen, moderne Naturwissenschaft und Technik setzen sich gegen blaue Dogmen durch. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, postuliert Immanuel Kant, und die Vernunft wird endgültig zur maßgeblichen Instanz dieses neuen Bewusstseins.

Auch wenn wir heute mit der Kehrseite des modernen Bewusstseins zu kämpfen haben (auf die wir gleich noch zu sprechen kommen), dürfen und müssen wir deren unglaubliche Errungenschaften schätzen: die Fortschritte in der Medizin und in allen Bereichen von Wissenschaft und Technologie, den Aufbau demokratischer Gesellschaften, die Deklaration der Menschenrechte als Naturrecht in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. Später die Nürnberger Prozesse, die ohne ein selbstbewusstes Orange nicht denkbar gewesen wären. Die Chance auf ein freies, selbstbestimmtes Leben.

Orange_Hubble

Orange erforscht und vermisst die Welt, den Weltraum, den menschlichen Körper. Und entzaubert, berauscht von sich selbst, dadurch die Welt. „Gott ist tot“, ruft Nietzsche, denn ein Gott wird nicht mehr benötigt in einer Welt, in der ausschließlich Ratio und Vernunft regieren. Die Welt wird zum Flachland, sagt Ken Wilber dazu, zu etwas Geistlosem, rein Materiellem, ohne Tiefe und Sinn. Wilber kritisiert die Selbstüberschätzung der empirischen Wissenschaft, den Glauben, „dass es keine Wirklichkeit gäbe außer der von der Wissenschaft enthüllten und keine Wahrheit außer derjenigen, die die Wissenschaft zutage förderte“. Das Bewusstsein selbst, Geist, Herz und Seele der Menschen wurden, weil man sie nicht mit einem Mikroskop oder sonstiger Technik sichtbar machen konnte, „im besten Fall zu Epiphänomenen, im schlechtesten zu Illusionen erklärt“.

Ganz sicher ist dieser Materialismus, in dem nichts mehr heilig ist, einer der Gründe für die vielen Pathologien und die teilweise moralische Bankrotterklärung der Moderne. Klimawandel, Umweltzerstörung und Artensterben haben uns an den Rand einer globalen Katastrophe geführt. Aber auch ein dritter Weltkrieg, die permanente atomare Bedrohung schwebt wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen. Hochmoderne Waffen befinden sich in den Händen prämoderner Potentaten, deren Bewusstsein diese fatale Mischung aus Rot und Blau aufweist, die uns auch schon in die Katastrophe des zweiten Weltkriegs geführt hat. Die Welt braucht ein neues Bewusstsein, vielleicht dringender denn je. Eine neue Wir-Stufe mit einem weltzentrischen Bewusstsein.

Postmodernes Bewusstsein (Grün)

Die erste postmoderne Stufe ist die grüne Stufe. Und die Farbe Grün steht hier natürlich für das neu entstehende Umweltbewusstsein. Von einer weltzentrischen Sicht, die alle Menschen einschließt und nicht nur die eigene Nation, geht die Entwicklung jetzt zu einem Bewusstsein, das auch Tiere und die Natur einbezieht. Auch wenn erste Grüne Ideen schon vor etwa 150 Jahren aufkeimten, erreichte diese Bewusstseinsstufe erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine relevante Schwelle – mit der Hippie- und Flower-Power-Bewegung, dem Aufkommen der Friedens- und Umweltbewegungen, der Gründung grüner Parteien in den westlichen Staaten. Postmodernes Bewusstsein ist charakterisiert durch ein hohes Maß an Sensibilität, vor allem denen gegenüber, die unterdrückt und ausgebeutet werden.

Fridays for Future

Als Antithese zum modernen Orange setzt Grün auf Konsens und Vernetzung und lehnt hierarchische Strukturen vehement ab. Postmodernes Bewusstsein ist pazifistisch und feministisch – eine feministische Außenpolitik, wie sie Annalena Baerbock vertritt, ist nur auf einer postmodernen Stufe denkbar.

„Obwohl der Beitrag der Postmoderne zur menschlichen Evolution noch nicht vollkommen erfüllt ist“, schreibt Steve McIntosh, „gibt es doch viele Anzeichen, dass sie als eine Ebene der Kultur ihre Reife erlangt hat“. Zwar hat erst eine Minderheit der Menschen die postmoderne Bewusstseinsstufe erreicht – zwischen zehn und 15 Prozent im Westen, weniger als fünf Prozent weltweit – dennoch erkennen wir ihren wertvollen Beitrag zur Entwicklung der Menschheit, ebenso wie ihre Schwächen und Pathologien. McIntosh nennt hier als aller erstes den „Werterelativismus“, der, weil er alle Hierarchien strikt ablehnt und nach dem Prinzip „alles ist okay“ handelt, zu wenig differenziert. Dies zeige sich unter anderem in der New-Age-Spiritualität, der alternativen Medizin und dem Multikulturalismus.

Grün entdeckt das Innere und die Spiritualität wieder, und dies ist definitiv eine gute Nachricht, denn eine Welt, aus der alles Heilige verschwunden ist, wird, wie wir rund um den Globus sehen können, zum rein materiellen Rohstoff.

Allerdings ist eine postmoderne Spiritualität auch in hohem Maße undifferenziert. Aufgrund der oft antimodernen Ressentiments der postmodernen Weltsicht gegenüber der Moderne und der Überbetonung der Gefühle gegenüber der Vernunft, wird alles, was nicht-rational ist, als spirituell angesehen. „Dieses Wochenende verbringt man in der indianischen Schwitzhütte, das nächste mit Wicca-Zeremonien, am übernächsten wandert man zu den Naturgeistern, Devas und Feen im Frühlingswald, und dann geht’s zum Sonnenritual nach Stonehenge“, so beschreiben Marion Küstenmacher und Tilmann Haberer dieses Phänomen. Grünes Bewusstsein erkennt nicht, dass es sich hierbei um ausnahmslos prärationale Erfahrungsmöglichkeiten handelt. Also um magisches Denken, um einen oft naiven und kindlichen Aberglauben.

Der Bestseller „Bestellungen ans Universum“ und der Film „What the Bleep do we know“, in dem „auf unseriöse Weise Physiker-Interviews mit Purpurnem New-Age-Spiritismus und Oranger Wissenschaftsgläubigkeit verknüpft werden“, so Küstenmacher und Haberer, sind bekannte Beispiele dieser Prä-Trans-Verwechslung, wie Ken Wilber das Phänomen bezeichnet. Zwar ist es gut und wichtig, auch prä-moderne Rituale zu würdigen, aber ein Zurück zu Prä-rationalen Weltsichten kann nicht die Lösung sein. Die Moderne mit ihrer rationalen Vernunft, hat uns glücklicherweise von viel magischem und mythischem Ballast befreit. Eine aufgeklärte Spiritualität aber ist nicht rückwärts-, sondern vorwärtsgewandt, sie geht über die Moderne hinaus, integriert und transzendiert diese. Eine aufgeklärte (integrale) Spiritualität steht niemals im Widerspruch zu Wissenschaft und Forschung, sondern fügt dieser etwas hinzu: Bewusstsein und Tiefe.

Kampf der Kulturen und Weltsichten

Heute konkurrieren in der westlichen Welt also drei Weltsichten miteinander: die traditionelle Blaue, die moderne Orange Weltsicht und das postmoderne Grün. Und natürlich gibt es auch die Zwischenstufen, Blau/Orange, Orange/Grün, Grün/Gelb, es dauert lange, bis Stabilität auf einer neuen Bewusstseinsstufe erreicht ist. „Die Spirale ist unordentlich, nicht symmetrisch, mit vielen Mischformen statt reinen Typen“, beschreibt es Don Beck.

Schöne Beispiele dafür finden wir in der Politik und den Parteien. In der CDU wollen die einen eine Modernisierung, wie sie Angela Merkel auf den Weg gebracht hat, die anderen propagieren ein Zurück zu traditionellen Werten. Die FDP ist eigentlich die Partei der Moderne, von ihren Werten her ist sie jedoch eher rückwärtsgewandt als zukunftsorientiert, das heißt näher an der Bewusstseinsstufe Blau als an Grün. Die SPD befindet sich auf dem Weg von Orange zu Grün, wagt es aber noch nicht, sich komplett zu Grünen Werten zu bekennen. Und in der Grünen Führungsspitze blitzt schon ein wenig die nächste Bewusstseinsstufe auf, die (differenzierendere, pragmatischere) Integrale, was jedoch von der Grünen Basis oft als Verrat an Grünen Werten gesehen wird. Und natürlich bekämpft man sich gegenseitig, oft bis aufs Blut. Vor allem die Grünen dienen gern als Prügelknaben, denn Grüne Themen wie Gendern und Ernährung – Vegetarismus oder Veganismus –  empfinden vor allem Menschen der Blauen Stufe als Frontalangriff auf die eigenen traditionellen Werte und die traditionelle Kultur.

Weil alle Stufen nur die eigene Weltsicht als wahr und richtig anerkennen, von den anderen Stufen vor allem die pathologischen Aspekte wahrnehmen, aber nicht ihre wertvollen Beiträge zur Evolution, verschärft sich der Kulturkampf zunehmend, und gemeinsamer Fortschritt wird verhindert. So ist der Aufstieg zu einem Grünen Bewusstsein zwar ein notwendiger, ja überfälliger Schritt, weil es die moralisch am weitesten entwickelte Stufe ist, aber er wird nicht reichen, um die globalen Probleme der Welt zu lösen. Ein neues Bewusstsein ist notwendig, und dieses bezeichnen Ken Wilber, Steve McIntosh und viele andere als integral.

Integrales Bewusstsein (Gelb)

Die integrale Weltsicht transzendiert die Postmoderne, weil sie zu etwas völlig Neuem in der Lage ist: Sie überblickt als erste Weltsicht die gesamte Spirale. Gelb erkennt die Bedeutung und evolutionäre Notwendigkeit jeder einzelnen vorherigen Stufe, würdigt deren Werte und Errungenschaften, erkennt aber auch ganz klar die jeweiligen Schwächen – und ist in der Lage, dies alles in neuen, systemischen Lösungsansätzen zu berücksichtigen. Der Zukunftsforscher Matthias Horx spricht von einer neuen Fähigkeit des „fluiden Denkens“, das erkennen kann, „wie widersprüchliche Elemente zusammenhängen und einen Sinn ergeben“. Und Steve McIntosh schreibt:

„Integrales Bewusstsein führt sehr viel effektiver zu evolutionärer Entwicklung, weil es die Evolution selbst besser versteht.“

Spiral Dynamics spricht deshalb von einem zweiten Rang (2nd tier), und das integrale Bewusstsein ist die erste Stufe dieses zweiten Ranges. Und nach der Grünen Wir-Stufe die nächste individualistische Ich-Stufe. Moralisch sehr weit entwickelt, agiert es unabhängig und weit gehend frei von Ängsten und Zwängen, handelt aber nie auf Kosten anderer. Gelb ist immun gegenüber Machtspielchen der früheren Stufen und übernimmt die volle Verantwortung für das eigene Leben. Paradoxien anzunehmen und unterschiedliche Wahrheiten nebeneinander stehenzulassen, ist für das integrale Bewusstsein selbstverständlich.

Vor allem erkennt Gelb, wie wichtig eine gesunde Spirale der Evolution ist und wie unrealistisch der Grüne Ruf nach einem verantwortungsvollen weltzentrischen Bewusstsein aller. „Einfach darauf zu bestehen, dass wir alle eine weltzentrische Ökologie annehmen oder globales Mitgefühl entwickeln sollten, ist ein gut gemeintes, aber in praktischer Hinsicht nicht besonders nützliches Projekt“, sagt Ken Wilber dazu, „denn weltzentrische Wellen gehen aus Entwicklung hervor, nicht aus Ermahnungen“. Und Steve McIntosh ergänzt: „Die Postmoderne kann oft sehr antimodern eingestellt sein, trotz der Tatsache, dass die Moderne den nächsten wichtigen Schritt für die Mehrheit der Weltbevölkerung darstellt.“

Die sozialen und kulturellen Spannungen werden wie gesagt durch die Tendenz jeder Stufe verstärkt, vor allem die pathologischen Elemente der anderen Stufen zu sehen statt deren Stärken und wichtige Beiträge zur Evolution. Dieser Kulturkampf zwischen den Stufen verstärke die regressiven Elemente, sagt Steve McIntosh. Nur wenn man es schaffe, die bleibenden Ideale einer jeden Weltsicht ernsthaft zu würdigen, könne es gelingen, die Extremisten auf jeder Ebene zu entmachten. Auch weil jeder Mensch, auch in Zukunft, alle Stufen wird durchlaufen müssen, sei es wichtig, die Stärken dieser Stufen zu nutzen und darauf zu achten, dass die Pathologien und die Extremisten dieser Stufen nicht die Oberhand gewinnen. Diesen Prozess einzuleiten und zu moderieren ist die wesentliche Aufgabe des neu aufkommenden integralen Bewusstseins.

Doch natürlich stellt sich angesichts der Tatsache, dass sich die weltweiten schwerwiegenden Probleme immer mehr verschärfen, die Frage, ob die Evolution hin zur Gelben Bewusstseinsstufe schnell genug erfolgen wird? Steve McIntosh hofft, „dass die globalen Probleme genug Besorgnis hervorrufen, um bereits in der Gegenwart das Entstehen einer integralen Weltsicht in einer kritischen Masse von Menschen zu stimulieren“. Und dass sich unsere Kultur schnell genug entwickelt, um die Art von Krise zu vermeiden, die tatsächlich zur Regression der Kultur führen könnte. Doch hoffen allein wird nicht ausreichen. Jeder einzelne bewusste Mensch kann und muss daran mitwirken, integrale Werte und integrales Bewusstsein bei sich selbst zu entwickeln, zu kultivieren und in die Welt zu bringen.

Wie geht es weiter?

Wenn wir die Dynamik der Spirale verstehen, dann können wir erahnen, was als nächstes kommt: Integrale Individualisten schließen sich auf einer noch höheren Bewusstseinsstufe – Spiral Dynamics verwendet für diese Ebene bereits die Farbe Türkis, die Farbe, die die Erde hat, wenn man sie aus dem Weltraum betrachtet – zu integralen Gemeinschaften zusammen. Vielleicht entsteht auf dieser Stufe eine Weltföderation, eine Weltregierung, die tatsächlich auf globaler Ebene im Sinne aller handelt, aller Menschen, aller Wesen und im Sinne des gesamten Planeten, weil sie alle Weltsichten erkennt, würdigt und berücksichtigt. Es wäre eine definitiv ganz andere Welt als die heutige. Eine friedlichere, gesündere, spirituellere und gerechtere. Und wir alle sind dazu aufgerufen, am Entstehen dieser schönen neuen Welt mitzuwirken. Yoga, Vipassana, Zen-Meditation und andere östliche Praktiken helfen uns dabei. Denn sie führen uns nicht nur in die Stille, in meditative Zustände absoluter Klarheit und Verbundenheit – sondern beschleunigen auch die Entwicklung durch die Bewusstseinsstufen hindurch.

Quellen:

Ken Wilber: Eros, Kosmos, Logos – eine Jahrtausendvision
Ken Wilber: Integrale Spiritualität – Spirituelle Intelligenz rettet die Welt
Steve McIntosh: Integrales Bewusstsein und die Zukunft der Evolution
Don Edward Beck, Christopher Cowan: Spiral Dynamics – Leadership, Werte und Wandel
Marion Küstenmacher, Tilmann Haberer, Werner Tiki Küstenmacher: Gott 9.0 – Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird

Sri Aurobindo

Sri Aurobindo war eine faszinierende Persönlichkeit. Und ein großer Visionär und Denker. Auch wenn er bis heute nicht „die ihm zustehende Anerkennung erfährt“, wie der Indologe Georg Feuerstein schreibt, so haben seine Lehren dennoch einen großen Einfluss auf die spirituelle Praxis und Philosophie nicht nur in Indien, sondern auf der ganzen Welt. Der integrale Philosoph Ken Wilber bezeichnet ihn gar als einen der einflussreichsten spirituellen Denker des 20. Jahrhunderts.

Sri Aurobindo war ganz ohne Zweifel ein Universalgenie. Er war ein Gelehrter, er war Philosoph und Dichter, er war Politiker und Revolutionär. Vor allem aber war er „ein Seher, der die kommende Evolution schaute“, wie einer seiner bedeutendsten Schüler, Satprem, schrieb. Und das machte Sri Aurobindo so einzigartig. Er selbst sah sich nicht nur als Erforscher des Bewusstseins, sondern auch als Baumeister einer neuen Welt. Denn „was nützt es, das Bewusstsein zu ändern, wenn die Welt um uns so bleibt, wie sie ist?“, fragte er. Seine konsequente Forderung, die spirituelle Praxis und Entwicklung mit einer Verantwortung für die Gesellschaft und die Welt zu verbinden, macht seine Lehre des Integralen Yoga brandaktuell.

Ein Kind des Westens

Sri Aurobindo wurde am 15. August 1872 in Kalkutta geboren. Doch vom 8. bis zum 20. Lebensjahr lebte er in England, wo er auf Wunsch seines Vaters eine konsequent westliche Erziehung erhalten sollte. Dieser hatte in England Medizin studiert und er wollte seine drei Söhne – der jüngste war Sri Aurobindo, sein Lieblingssohn – davor bewahren, von diesem rückständigen Mystizismus Indiens angesteckt zu werden. Sie sollten nichts von der Überlieferung und den Sprachen Indiens kennen.

Die drei Brüder wuchsen zunächst in der Obhut eines anglikanischen Pfarrers in Manchester auf, der die strenge Anweisung hatte, alles Indische von ihnen fernzuhalten. Sie sollten keinen Inder kennenlernen und keinen indischen Einflüssen ausgesetzt sein. Auch erhielten sie keinen Religionsunterricht, damit sie, so der Wunsch des Vaters, später ihre Religion selbst wählen konnten – so sie es denn wollten. Tatsächlich war Sri Aurobindo kein religiöser Mensch, und er betonte stets, dass Religion und Spiritualität nicht dasselbe seien.

Sri Aurobindo war klug, wissbegierig und von unglaublich schneller Auffassungsgabe. Er lernte Griechisch und Latein, sprach fließend Englisch, Französisch, Italienisch und Deutsch. Die französischen Symbolisten Mallarmé und Rimbaud las er ebenso im Original wie Goethe und den italienischen Dichter Dante. Man sagt, dass Humor zum Kern seines Wesens gehörte, aber kein spöttischer Humor, sondern ein freudvoller und mitfühlender.

Mit 18 erhielt Sri Aurobindo ein Stipendium in Cambridge. Gleich im ersten Jahr gewann er dort alle Preise in griechischer und lateinischer Dichtung. Doch sein Interesse begann sich in dieser Zeit zu verschieben. Er beschäftigte sich mit Jeanne d’Arc und der amerikanischen Revolution – und der Gedanke an die Befreiung seiner Heimat, die Unabhängigkeit Indiens ließ ihn nicht mehr los. Obwohl er zu dieser Zeit kaum wusste, was ein Inder, geschweige denn, was ein Hindu war, sollte er sich fast 20 Jahre politisch in seinem Heimatland betätigen und zu einem der großen Vorkämpfer der indischen Unabhängigkeit werden – 15 Jahre, bevor Gandhi die politische Bühne Indiens betrat.

Heimkehr

Sri Aurobindo ging es nie um Theorien. Er war ein Macher, ein Handler. An der Universität wurde er zum Sekretär der Indian Majlis, der Verbindung indischer Studenten in Cambridge. Er hielt revolutionäre Reden, trat einer Geheimgesellschaft mit dem Namen „Dolch und Lotos“ bei – und landete schnell auf der Schwarzen Liste der englischen Regierung. Den Bachelor of Arts in den klassischen Fächern machte er zwar noch, verzichtete dann aber auf den Universitätsgrad – sein Interesse hatte sich bereits komplett verlagert.

Ohne Frage ist diese absolute Freiheit und Unabhängigkeit etwas, was wir von Sri Aurobindo lernen können. Was er für richtig hielt, tat er, ohne zu fragen, ob es ihm nutzen oder schaden könne. Doch genauso wie er sich der Dinge annahm, ließ er sie auch hinter sich, wenn er sich neuen Dingen zuwendete. Vollständig.

„Wenn ihr einen Abschnitt eurer Reise hinter euch gebracht habt, lasst ihn fallen, auf dass er verschwinde“, sagte er einmal. „Schreitet voran! Alles, was wir festhalten, belastet und behindert uns.“ Oder später: „Die Vollendung des Integralen Yoga wird dann erreicht sein, wenn jeder seinem eigenen Weg des Yoga und der Entfaltung seiner eigenen Natur folgen kann, in ihrem Aufwärtsstreben zu dem, was die Natur überschreiet. Denn die Freiheit ist das höchste Gesetz und die letzte Erfüllung.“

Und so schiffte sich Sri Aurobindo mit gerade einmal 20 Jahren nach Indien ein. Ohne Verbindungen (sein Vater war bereits gestorben und seine Mutter so schwer erkrankt, dass sie ihn nicht mehr erkannte), ohne Stellung und Titel, aber mit dem dringenden Wunsch zu handeln und etwas zu vollbringen.

Revolutionär und Yogi

Als Sri Aurobindo in Bombay von Bord des Schiffes ging, das ihn nach Indien gebracht hatte, hatte er ein erstes spirituelles Erlebnis: eine weite Stille nahm von ihm Besitz. Weil er völlig mittellos war, nahm er zunächst beim Maharaja von Barode eine Stelle als Lehrer an und unterrichtete Französisch, später auch Englisch am staatlichen College, wo er schnell zum stellvertretenden Rektor aufrückte. Gleichzeitig schrieb er jedoch Artikel, in denen er seine Landsleute aufrief, ihr Joch abzuschütteln – und die schnell für großes Aufsehen sorgten. Sein Ziel war kein Geringeres, als alle Kräfte des Landes zu einer revolutionären Tätigkeit zusammenzuschmieden.

Sri Aurobindo

Genauso schnell, wie Sri Aurobindo sich die gesamte abendländische Kultur erschlossen hatte, bemächtigte er sich nun des Indischen und Hinduistischen. Er lernte seine Muttersprache Bengali, bald darauf Sanskrit, damit er die großen Schriften Indiens, die Upanischaden, die Baghavad Gita und das Ramayana im Original lesen konnte.

Doch auch davon hatte er bald genug, erkannte er doch, dass ihn ein bloßes Anhäufen von Wissen nicht weiter bringt.

Ein Freund riet ihm, mit Yoga zu beginnen. Doch Sri Aurobindo winkte zunächst ab mit den Worten: „Ein Yoga, der von mir verlangt, dass ich mich von der Welt abwende, ist nichts für mich.“ An Indien kritisierte er „die Trägheit, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Fortschritt, die Resignation, die sich allzu oft die Maske der Weisheit anlegen und in der Vernachlässigung der Welt münden.“

Das war etwas, das er, der im Westen Aufgewachsene, nicht verstand, und er fragte sich, wie es zu diesem riesigen Widerspruch in der großen Offenbarung Indiens gekommen war? Wie war es möglich, dass aus „alles ist Brahman“ in den frühen Upanishaden, ein „alles, ausgenommen der Welt ist Brahman“ der späteren Upanishaden werden konnte? In der Mundaka-Upanishad hatte es noch geheißen: Diese Erde, dieses Leben, diese Menschen, dies alles ist Brahman, dieses ganze großartige Weltall. Doch in der Niralamba Upanishad war daraus geworden: „Das Brahman ist wahr, die Welt ist eine Lüge.“ Und der große Mystiker und Dichter Shankara rief zu Beginn des 8. Jahrhunderts aus: „Wende dich ab von dieser Welt der Illusion.“

Und es war ja nicht nur in Indien so, alle großen Weltreligionen sagen dasselbe, schrieb Satprem später in einem Kommentar dazu: „Ob man vom Seelenheil spricht oder von der Befreiung (mukti), ob man vom Paradiese spricht oder vom Ende des Kreislaufs der Widergeburten, letztendlich geht es in allen Fällen darum, dass man sich der Sache entzieht.“

Für Sri Aurobindo gab es kein „ausgenommen“ und auch kein „entziehen“. Für ihn war die Welt keine Lüge, sie war Brahman, wie in den frühen Upanishaden, und er wollte das Himmelreich, das göttliche Paradies auf die Erde holen. Ein anderes Yoga-Verständnis machte für Sri Aurobindo keinen Sinn.

Als er miterlebte, wie einer der halbnackten indischen Wandermönche seinen Bruder Barin, der an einem bösen Fieber litt, heilte, wurde ihm klar, dass Yoga auch anderen Zwecken als der Weltflucht dienen könnte.

Spiritueller Realismus

Während Sri Aurobindo also am staatlichen College und am Hofe des Maharajas von Baroda unterrichtete, sich gleichzeitig zunehmend als Freiheitskämpfer für Indien engagierte, gewöhnlich bis nachts um ein Uhr Gedichte schrieb, tauchte er gleichzeitig mehr und mehr in den Yoga ein. Eine Trennung von diesseitigem und jenseitigem Leben gab es für ihn nicht. „Seit meiner Rückkehr nach Indien sind mein Leben und mein Yoga immer zugleich von dieser Welt und nicht von dieser Welt gewesen, ohne dass die eine Seite die andere Seite ausgeschlossen hätte“, schrieb er in einem Brief an einen Schüler.

Mehr und mehr wandte er sich dem, wie er es nannte, „spirituellen Realismus“ zu. Mit Zeitungsartikeln und politischen Reden versuchte er, den Gedanken der Unabhängigkeit Indiens wachzurufen und die „revolutionären Geister zu schüren“. Von sich selbst sagte er: „Ich bin weder ein ohnmächtiger Moralprediger noch ein schwächlicher Pazifist.“ Damit das Gesetz des Streits und der Zerstörung aus der Welt verschwinde, genüge es nicht, die eigenen Hände rein und die eigene Seele unbefleckt zu lassen. Eine bloße Unbeweglichkeit und Trägheit, die nicht willens sei, dem Bösen Widerstand zu leisten, fördere sogar die Zerstörung.

Bande_mataram

Und so gründete er eine nationalistische Partei und mit dem Nationalisten Bepin Pal zusammen eine eigene Tageszeitung, die „Bande Mataram“ – „Heil dir, Mutter Indien“. Er stellte ein Aktionsprogramm für das ganze Land auf, in dem er zum Boykott der britischen Erzeugnisse, Boykott der britischen Gerichte und Boykott der britischen Schulen und Universitäten aufrief. Er entfaltete als Aufwiegler solch eine rege Tätigkeit, dass nach einem Jahr ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde. Doch weil alle seine Texte und Reden rechtlich nicht angreifbar waren – er berief sich schlicht auf das Recht

eines jeden Landes auf Unabhängigkeit –, wurde er aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Durch diese missglückte Verhaftung wurde Sri Aurobindo berühmt. Doch trotz aller Entschiedenheit und Unerschrockenheit, die er im Freiheitskampf Indiens an den Tag legte, war Sri Aurobindo nie ein Fanatiker. Er blieb für seine Zeitgenossen immer „der ruhige junge Mann, der mit einem einzigen Wort eine stürmische Versammlung zum Schweigen bringen konnte“, wie es Satprem formulierte. Und er entwickelte konsequent seinen integralen Yoga weiter.

Das Schweigen des Mentals

Patanjali und viele andere haben beschrieben, wie es gelingen kann, die Bewegungen des Geistes zur Ruhe zu bringen und in den Zustand des Yoga einzutauchen. Sri Aurobindo sagte dazu: „das Mental zum Schweigen bringen“. Dies sei essenziell, daran ließ auch Aurobindo keinen Zweifel, „weil wir zuerst das alte Land verlassen müssen, wenn wir ein neues entdecken wollen.“ Zwar sei die Fähigkeit zu denken eine beachtliche Gabe, die Fähigkeit nicht zu denken sei aber noch viel beachtlicher.

In Meditationsübungen, auch wenn sie hilfreich und notwendig seien, sah Sri Aurobindo dabei jedoch nicht die wahre Lösung des Problems. „Denn wenn wir zurückkommen aus der Stille in die Welt, und alles ist wie vorher, was ist dann gewonnen? Was ist gewonnen, wenn unsere Taten nicht dem inneren Licht entsprechen?“ Der einzige Weg war seiner Ansicht nach deshalb, das Schweigen dort zu üben, wo es am schwierigsten ist: „auf der Straße, in der U-Bahn, bei der Arbeit und überall.“ In jedem Augenblick müsse man die verstreuten Fäden seines Bewusstseins sammeln und an sich selbst arbeiten. Dann sind wir ausgerichtet, dann steuern wir auf ein Ziel zu, anstatt ins Blaue hinein zu meditieren.

Die Geburt der Seele

Ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu höheren Bewusstseinsstufen ist für Sri Aurobindo die, wie er es nennt, „seelische Geburt“. In dem Moment, wo wir beginnen, uns von unseren mentalen und vitalen Regungen frei zu machen, wird etwas in uns entzündet, „etwas wie ein Feuer, agni; das ist das wahre Ich in uns“. Es fühle sich an wie „Wissensdurst“ oder eine „Liebessehnsucht“, die aber nicht unserem kleinen Ego gilt. „Wie eine lebendige Tiefe, die man im Innern trägt, die wärmt und brennt, die drängt und immer noch mehr drängt, bis sie endlich zur Wirklichkeit wird, zur einzigen Wirklichkeit in einer Welt, in der man sich fragen kann, ob die Menschen leben oder nur so tun als ob. Es ist unser Selbst aus Feuer, das einzig wahre Selbst dieser Welt.

Die Entdeckung der Seele sei dabei kein Endpunkt für den Sucher, sondern nur der winzige Anfang einer weiteren Reise, die sich in Bewusstheit statt in Unwissenheit vollzieht. Wichtig sei dabei ein unerschütterlicher Glaube daran, dass wir irgendwann an eine Türe gelangen, die sich öffnen wird. Ein Glaube, der nicht unsinnig sei, sondern vielmehr ein Voraus-Wissen, etwas in uns, das weiß, bevor wir wissen, das sieht, bevor wir sehen.

„Der Glaube ist eine Intuition, die nicht darauf wartet, von der Erfahrung bestätigt zu werden, sondern zur Erfahrung führt.“ Oder anders ausgedrückt: Nur wenn wir glauben, dass wir ein höheres Bewusstsein entwickeln können und daran arbeiten, werden wir es auch tun. „Das Bewusstsein ist das Mittel, das Bewusstsein ist der Schlüssel, das Bewusstsein ist das Ziel.“

Integraler Yoga

Der Yogi, schreibt Sri Aurobindo, erkenne irgendwann, dass die Gedanken nicht im Kopf entstehen, sondern von außen kommen, „aus dem universalen Mental oder der universalen Natur, manchmal geformt und deutlich, manchmal ungeformt, um irgendwo in uns Gestalt zu erhalten.“ Die Hauptaufgabe unseres Mentals bestehe darin, auf diese Gedankenwellen (ebenso wie auf feinstoffliche Energiewellen) mit Annahme oder Ablehnung zu antworten, „dem Denkstoff aus der umgebenden Natur-Kraft eine persönlich-mentale Form zu geben“. Daraus entstehe eine vollkommen neue Art des Wissens und des Handelns.

Dies ist laut Aurobindo der zentrale Unterschied zwischen seinem Integralen Yoga und der klassischen Yogalehre. Im integralen Yoga geht es nicht darum, die Kundalini zu erwecken und ein Chakra, ein Bewusstseinszentrum nach dem anderen von unten nach oben zu öffnen, um am Ende die Erleuchtung zu erlangen, sondern den umgekehrten Weg zu gehen – von oben nach unten, zunächst die höchste und dann eine nach der anderen alle Bewusstseinsebenen zu durchdringen und zu transformieren, bis zur niedrigsten, der physischen Ebene.

Sri Aurobindo schreibend

„Diese herabsteigende Kraft ist eine transformierende Kraft, die ganz von selber den Yoga für uns vollzieht“, schreibt Sri Aurobindo. Man brauche „nichts anderes zu tun, als den Durchgang nicht zu versperren. Den Strom in den Kopf nicht zu blockieren, sondern ihn in alle Schichten unseres Wesens herunterkommen zu lassen.“ Alles ist in einem ständigen Zustand des Fließens, und alles erreicht uns aus einem Mental, das umfassender ist als das unsrige und das gesamte Universum durchdringt, aus einem Vital, das umfassender ist als das unsrige und das gesamte Universum durchdringt. Oder aus noch niedrigeren Schichten, die unterbewusst, oder aus noch höheren Schichten, die überbewusst sind.

Aurobindo spricht von einer „Stufenleiter von Bewusstseinsebenen, die sich ohne Unterbrechung vom reinen Geist bis hinab zur Materie aneinanderreihen und in unmittelbarer Beziehung zu unseren Zentren stehen.“ Das Mental ist für ihn nur eines dieser Zentren, auch wenn es sich anmaßen wolle, an erster Stelle zu stehen.

Im spirituellen oder yogischen Stadium sei das Bewusstsein von seinen mentalen, vitalen und physischen Strudeln vollständig befreit und zum Meister seiner selbst geworden, schreibt dazu Satprem. „Ein Meister, der fähig ist, dies gesamte Stufenleiter der Bewusstseinsschwingungen zu durchlaufen“ – und mit ihnen in Verbindung zu treten. In diesem yogischen Stadium erkenne man auch, dass Bewusstsein eine Kraft ist; Bewusstseinskraft (chit agni), die alles verbindet, alles belebt, die Grundlegende Substanz des Kosmos. Und noch mehr als das, nämlich reine Freude, Bewusstseinsfreude (chit ananda). So wie es schon in der Taittiriya Upanishad heißt: „Aus der Freude sind alle Dinge geboren, durch Freude bestehen und wachsen sie, zur Freude kehren sie zurück.“

Die Geschichte unserer irdischen Evolution ist laut Sri Aurobindo also letztlich die Geschichte der Kraft, die sich langsam in Bewusstsein verwandelt; oder genauer: die Geschichte des Bewusstseins, das in seine eigene Kraft versunken war und sich langsam an sich zurückerinnert.“ Oder wie es der integrale Philosoph Ken Wilber in Anlehnung an Sri Aurobindo viel später formuliert hat: das Göttliche wird sich seiner selbst durch uns bewusst.

Offenbarungen

Mitten im Kampf um die Unabhängigkeit Indiens, in einer für Sri Aurobindo äußerst turbulenten und aufrührerischen Zeit, suchte er am 30. Dezember 1907 erstmals den Yogi Vishnu Bhaskar Lele auf und sagte zu ihm: „Ich möchte den Yoga vollziehen. Aber um arbeiten und handeln zu können, nicht um auf die Welt zu verzichten oder ins Nirvana einzugehen.“ Der Yogi entgegnete: „Ihnen sollte das ein Leichtes sein, Sie sind ja Dichter.“

Doch zunächst einmal kam alles ganz anders, und Sri Aurobindos bereits paradoxes Leben nahm eine nochmalige und neue Wendung. In den drei Tagen, in denen er mit Lele zusammen war, machte Aurobindo eine Reihe äußerst machtvoller Erfahrungen, und er erfuhr eine Reihe tiefgreifender Bewusstseinsänderungen. Alle seine Bemühungen um die mentale, vitale und physische Transformation sowie sein Glaube an ein vollendetes irdisches Leben wurden mit einem Schlage in einer enormen Illusion ausgelöscht. Nichts blieb übrig außer leeren Formen.

„Ich sah mich plötzlich in einen Zustand oberhalb des Denkens und ohne Gedanken versetzt“, beschrieb er diese Samadhi-Erfahrung, „der von keiner Regung des Mentals oder Vitals getrübt war; es gab kein Ich, keine wirkliche Welt … Hier war kein Eines und nicht einmal ein Vieles, sondern einfach ein DAS … unbeschreiblich, undenkbar, absolut und dennoch eine einzige und höchste Wirklichkeit. Es überflutete den Anschein einer physischen Welt und ließ keinen Platz, keinen Raum für irgendeine Wirklichkeit außer sich selbst. Was diese Erfahrung brachte, war ein unaussprechlicher Frieden, ein überwältigendes Schweigen, eine Unendlichkeit an Loslösung und Freiheit.“ Doch sein integraler Yoga brach in sich zusammen. Wie sollte er zurückkehren und seine Arbeit in der Welt wieder aufnehmen, die er gerade eben als Illusion erfahren hatte?

Doch es war noch lange nicht das Ende, sondern ging in atemberaubendem Tempo weiter. Und so wurde diese Erfahrung, von der man sagt, sie sei die letzte und endgültige, für Sri Aurobindo wiederum nur der Ausgangspunkt zu neuen, noch höheren Erfahrungen, die die Wahrheit der Welt und die Wahrheit des Jenseits zu einer neuen, alles umfassenden Ganzheit zusammenfügten.

„Jene Haltung, die die Welt als Illusion sieht, wich einer anderen, einer unermesslichen göttlichen Wirklichkeit, darüber eine erhabenste göttliche Wirklichkeit … und im Herzen aller Dinge, von denen man zunächst dachte, sie seien nur Formen oder Schatten, eine äußerst kraftgeladene göttliche Wirklichkeit.“

Sri Aurobindo hatte eine neue, noch höhere Bewusstseinsebene erklommen, und er war vermutlich der erste Yogi, dem der Unterschied bewusst wurde zwischen einem Bewusstseinszustand (Samadhi, Nirvana), der vorübergehend ist, und den Bewusstseinsstufen oder -ebenen, die stabil sind – zumindest so lange, bis man die nächste, die nächst höhere Stufe erklimmt. Er erkannte, dass die Erfahrung von Samadhi nicht die höchste Sprosse der Leiter ist, sondern eine Erfahrung, die man auf jeder Bewusstseinsstufe machen kann. Und dass sich diese Erfahrung grundlegend ändert, wenn man die höchsten Bewusstseinsstufen, oberhalb des Mentals, erreicht hat. Dies sei „der Beginn der höheren Evolution“, in der es nicht darum gehe, das Mental aufzulösen, sondern es bis zum Äußersten zu entwickeln, so sein Schüler Satprem: „bis sein Kleinmut und sein oberflächliches Getöse erschöpft sind und es in seine höheren Regionen einmünden kann, auf einer spirituellen und supramentalen Stufe“.

Vier Monate nach dem Treffen mit Yogi Lele, am Morgen des 4. Mai 1908, wurde Sri Aurobindo verhaftet. In Kalkutta hatte es einen Mordanschlag auf einen britischen Magistraten gegeben. Obwohl er mit dem Attentat nichts zu tun hatte und am Ende wieder frei gesprochen wurde, verbrachte er in Erwartung des Urteils ein Jahr im Gefängnis von Alipore. Er haderte, gab es doch so viel zu tun im Freiheitskampf für Indien. Doch er erinnerte sich, dass er gut einen Monat vor seiner Verhaftung einen inneren Ruf vernommen hatte, er solle innehalten und in sich gehen. „Doch ich war schwach und hörte nicht darauf. Meine Arbeit war mir sehr kostbar, und ich dachte, sie könne Schaden nehmen“, schrieb er später.

Doch jetzt hatte er Zeit, innezuhalten und nach innen zu schauen. Auf dem Gefängnishof von Alipore hatte er eine weitere Offenbarung, kam er erstmals in Kontakt mit einer weiteren, noch höheren Bewusstseinsebene. Und er verstand, dass die Evolution noch lange nicht zu Ende ist. Dass es immer neue, noch höhere Stufen des Bewusstseins geben wird.

Sri Aurobindo: „Dieses eine Sein und Bewusstsein ist hier in Materie involviert. Evolution ist der Prozess seiner Selbstbefreiung. Bewusstsein taucht auf in dem, was ohne Bewusstsein zu sein scheint, und, einmal aufgetaucht, treibt es sich selbst an, immer höher hinaufzuwachsen und sich zugleich zu weiten und zu immer größerer Vollkommenheit hin zu entwickeln. Das Leben ist der erste Schritt dieser Freisetzung von Bewusstsein; der Geist ist der zweite. Doch die Evolution bleibt beim Geist nicht stehen. Sie wartet auf ihr Einmünden in etwas noch Größeres, ein Bewusstsein, das spirituell und supramental ist. Nichts gibt uns daher Anlass, die Möglichkeiten der Evolution als begrenzt anzusehen und den gegenwärtigen Status unseres Daseins für endgültig zu halten.“

Nach seiner Freilassung folgte Sri Aurobindo „der Stimme Gottes in seinem Inneren“, wie er sagte. 1910 gründete er einen Ashram in Pondicherry. Von 1914 bis 1920 publizierte er auf Initiative des französischen Schriftstellers Paul Richard die philosophische Zeitschrift Arya. In diesen sechs Jahren entstehen beinahe alle seine geschriebenen Werke – fast 5.000 Seiten. Im Jahre 1926 zog sich Sri Aurobindo schließlich komplett zurück, um sich nur noch der Verwirklichung des kosmischen Bewusstseins und der Erforschung des Überbewussten zu widmen, der Bewusstseinsebenen oberhalb des Mentals. Die Leitung des Ashrams übernahm seine spirituelle Gefährtin „Die Mutter“.

Die höheren Bewusstseinsstufen
nach Sri Aurobindo

Das höhere Mentale:

Unser erster entscheidender Schritt über unsere normale Denkweise hinaus ist ein Aufsteigen zu einem höheren Denkbewusstsein, zu einem Denken, das nicht länger aus Licht und Dunkel gemischt ist, sondern aus der weiten Klarheit des Spirits stammt. Seine Ursubstanz ist ein Gefühl der Einung des Wesens mit einer mächtigen, belebenden Kraft. Auf dieser höheren Denkebene ist es nicht mehr nötig, zu suchen und kritisch zu überlegen. Hier gibt es kein logisches Vorgehen, Schritt für Schritt bis zu einem Schluss, keine Konstruktion oder absichtliche Verkettung von Ideen miteinander, um so zu einem regelrechten Schluss, zu einem Ergebnis der Erkenntnis zu gelangen. Dieses höhere Bewusstsein stellt ein Wissen dar, das sich auf Grund eines totalen Gewahrseins selbst formuliert. Das in sich selbst ruht und einen Teil seiner Ganzheit offenbart, eine Harmonie von Bedeutungen, in Gedankenformen gebracht.

Das erleuchtete Mentale:

Ein Bewusstsein, das auf Schau beruht, das Bewusstsein des Sehers; es stellt eine mächtigere Quelle des Wissens dar als das des Denkers. Die Wahrnehmungskraft aus der inneren Schau ist größer und direkter als die Wahrnehmungskraft aus dem Denken. Sie ist ein spiritueller Sinn, der etwas von der Substanz der Wahrheit erfasst und nicht nur ihr Abbild.

Diese größere Kraft gehört dem Erleuchteten Mentalen an, einem Mentalen nicht mehr nur des höheren Denkens, sondern des spirituellen Lichtes. Dann tritt die Klarheit der spirituellen Intelligenz mit ihrem ruhigen Tageslicht zurück oder unterwirft sich einem starken Glanz, einer Herrlichkeit und Erleuchtung des Spirits: Ein Spiel von Erkenntnisblitzen der spirituellen Wahrheit und Macht bricht von oben in unser Bewusstsein ein und fügt der ruhigen und weiten Erleuchtung und dem gewaltigen Herabströmen des Friedens, die das höhere Mentale charakterisieren, eine feurige Glut der Verwirklichung und eine leidenschaftliche Ekstase des Wissens hinzu.

Das intuitive Mentale:

Diese beiden Entwicklungsstufen können nur dann zu ihrer gemeinsamen Vollendung gelangen, wenn sie sich auf eine dritte Stufe beziehen, wo das Wesen der Intuition wohnt. Diese innige Erkenntnis ist mehr als Schau, mehr als Begreifen; Intuition ist immer wie ein Schwert, ein Strahl, ist ein Ausbruch des höheren Lichtes. Sie dringt in uns ein wie eine Klinge, eine Schneide oder die Spitze eines fernen, supramentalen Lichtstrahles. Die Intuition besitzt eine vierfache Fähigkeit: die Kraft der offenbarenden Wahrheitsschau, die Kraft der Eingebung oder des Hörens der Wahrheit, die Kraft, die Wahrheit zu fühlen oder ihre Bedeutung unmittelbar zu erfassen, und schließlich die Kraft der wahren und unwillkürlichen Unterscheidung der wohlgeordneten und genauen Beziehung von Wahrheit zu Wahrheit.

Das Übermentale:

Die nächste Stufe des Aufstiegs bringt uns zum Übermentalen; denn die Wandlung durch Intuition kann nur die Einleitung zu dieser höheren spirituellen Ouvertüre sein. Wenn das Übermentale herabkommt, wird sich der Herrschaftstrieb des Ich-Sinnes, der sich immer in den Mittelpunkt stellt, gänzlich unterordnen, in der Weite des Seins verlieren und schließlich ganz abgelegt werden. Ein weites kosmisches Schauen, das Gefühl eines grenzenlosen All-Selbstes und ein All-Streben sind an seine Stelle getreten. Viele Regungen, die vorher noch egozentrisch waren, mögen zwar noch fortdauern, erscheinen aber nun als Strömungen und Wellenlinien in der kosmischen Weite. In dieser grenzenlosen Weite kann nicht nur das Einzel-Ich, sondern jedes Gefühl von Individualität oder instrumentaler, untergeordneter Persönlichkeit gänzlich verschwinden. Das kosmische Sein, das kosmische Bewusstsein, die kosmische Wonne, das Spiel der kosmischen Kräfte ist allein übriggeblieben, und wenn nun die Wonne oder der Brennpunkt der Kraft dort gefühlt wird, wo persönliches Denken, Vitales oder Einzelkörper gewesen sind, dann wird es nicht mehr als etwas Persönliches, sondern als ein Feld der Offenbarung empfunden.

Die „Herabkunft des Supramentalen“, von der er sich einen Bewusstseinswechsel erhoffte, „der die Macht haben wird, eine ebenso tiefgreifende und dauerhafte Umwandlung zu bewirken, wie sie der Geist hervorrief, als er zum ersten Mal in der Materie auftrat“, hat Sri Aurobindo nicht mehr erlebt. Er hat von diesem supramentalen Bewusstsein lediglich eine grobe Skizze angefertigt, denn dieses Bewusstsein ist gerade erst im Entstehen. „Die Geschichte vollzieht sich erst, sie ist ganz neu und voller Schwierigkeiten“, schreibt dazu Satprem. „Wir wissen weder, wohin sie führt, noch, ob sie gelingt. Im Grunde hängt es ein wenig von uns allen ab.“

Bewusstseinsstufen nach Sri Aurobindo

Quellen:

Satprem: Sri Aurobindo oder Das Abenteuer des Bewusstseins
Sri Aurobindo: Das göttliche Leben
Sri Aurobindo: Die Synthese des Yoga
Ken Wilber: Eros, Kosmos, Logos
Integrales Forum: https://www.integralesforum.org (Beschreibung der höheren Bewusstseinsstufen)